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Wenn Gerichte neu interpretiert werden – Manipulation im Namen der Tradition

Man denkt sofort an Fantasie und Kreativität, mit denen die Klassiker der italienischen Küche – die sogenannte Traditionsgerichte – aufgefrischt und mit neuen Ideen gefüllt werden. Dieser Trend erscheint mir jedoch geradezu pervers, auch weil er häufig zu überflüssigen, selbstverliebten Verirrungen führt, zu einem innovativen Kochen um jeden Preis, bei dem Zutaten, Geschmack und vor allem Identität komplett umgekrempelt werden.

Neulich in einer Bar wurde mir ein „Negroni auf neue Art“ angeboten, mit dem Zusatz, er würde wahnsinnig gut schmecken. Die Eiswürfel darin waren anders als gewohnt, rund und dreieckig. Ich habe probiert. Schlecht war es nicht, aber es war kein Negroni. Warum also ihn so nennen?

Ich war dann auch noch in einer Osteria. Herrlich, dachte ich mir beim Blick auf die Karte, hier machen sie „Pasta alla Carbonara“, die ich sehr liebe. Der Kellner erklärte mit dann stolz, dass dieser Klassiker bei ihnen ganz neu interpretiert würde: mit Jamòn iberico und Eidottern von der Gans (mit wenigen Flugstunden), und statt Pecorino Romano würden sie Gorgonzola verwenden. Schön und gut, aber warum muss das Ganze dann Carbonara heißen?

In Sardinien habe ich „Culurgiones“ gesehen, die typischen Traditions-Ravioli der Insel, die voller Stolz in Street Food verwandelt worden waren: Sie bestanden aus vielfarbigem Teig und waren mit Artischocken (!!!) gefüllt. Bitte, stöhnte ich innerlich, nennt das doch nicht Culurgiones! Echte Culurgiones werden aus wunderbarem Eierteig geformt, mit einer raffinierten ährenförmigen „Naht“ verschlossen und mit Käse und Kartoffeln gefüllt. Manchmal ist auch ein wenig frische Minze dabei. Serviert werden sie auf dem guten Geschirr und fast immer mit einem Fleisch-Sugo darüber.

Bei uns in den Bergen habe ich erlebt, wie unser Alpenklassiker Polenta zu einer kugelförmigen Mousse wurde, gekrönt mit Butterschäumchen (warum bekommen wir eigentlich alles und jedes nur noch als Schaum serviert?) und serviert mit getrockneten Steinpilzhütchen (die rohen Pilze fein aufzuschneiden, war offenbar langweilig), dazu Almkäse in Form salziger Eiscreme auf einer Waffel, die aus Pflanzenkohle und australischem Honig gemacht war. (An diesem Punkt würde ich mich tatsächlich dafür aussprechen, Mauern gegen ausländische Bienen hochzuziehen. Salvini, hörst du mich?)

Liebe Gäste, sicher haben auch Sie schon von neu interpretierter Küche gehört. Rivisited heißt das auf Englisch, und es klingt verlockend, als würde man bekannte Orte besuchen, die aber aufgepeppt wurden und jetzt modern strahlen. Gerade die klassischen Gerichte der italienischen Küche, die sogenannte Traditionsgerichte, werden in letzter Zeit gerne dieser Behandlung unterzogen. Mir kommt das nachgerade obszön vor. Hinter diesem Trend verbergen sich meiner Meinung nach überflüssige Verirrungen, übertriebene und selbstverliebte Innovationsbemühungen, in denen im Namen des Experimentierens (wer würde da schon gegen Experimente sein wollen?) Geschmack, Zutaten und vor allem Gehalt und Identität total durcheinandergebracht werden. So wie es diese Wahnsinnigen tun, die mit Bach-Melodien ihre Trap-„Musik“ „remixen“ (und die ich alle zum Zwangsstudium ins Konservatorium schicken würde!).

Ein Gericht neu zu interpretieren ist heute ein „Must“ geworden, das jedoch oft auf reine kulinarische Eitelkeit hinausläuft, sich selbstverliebt um sich selbst dreht und keine echte Weiterentwicklung darstellt. Durch den Akt der Neuinterpretation verliert ein Gericht – und damit etwas, womit wir uns ernähren – seine Seele. Es wird von seinen Wurzeln getrennt, von der Verbindung zu seiner Herkunft und von der Geschichte, die es durchlebt hat.

Die italienische Küche – ob aus den Bergen, aus den Hügeln oder aus dem Flachland, ob aus dem Norden oder dem Süden – ist eine Küche mit gewachsenen, bäuerlichen Wurzeln, die auf wenigen einfachen Zutaten basiert. Es ist eine „Armeleute“-Küche, wenn wir so wollen, weil die Menschen, die sie geprägt haben, in Armut lebten. Es ist daher auch eine Küche, die – wie der Dichter Eugenio Montale geschrieben hat – „das ruhmreiche Überleben“ feiert, nämlich das Überleben von Frauen und Männern, die in der großen Mehrheit Bauersleute waren.

Die Geschichte unserer italienischen Küche ist also nicht einfach nur die Geschichte gewisser Gerichte, sondern die Geschichte des menschlichen Überlebens, der Resistenz in oft unwirtlichen Gegenden. In diesem Kontext war das Essen Teil einer nötigen Resilienzstrategie. Heute dagegen feiern wir mit dem Essen oft ein misstönendes Echo des Authentischen.

Was ich mich frage: Wieviele dieser kreativ interpretierenden Zauberköche haben wohl das Standardwerk „Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens“ von Pellegrino Artusi gelesen? Mit fällt da Artusis „Vitel tonné“ ein, diesen Klassiker, wie er klassischer nicht sein könnte! Liebe Köchinnen und Köche (und ich schließe da die unsrigen mit ein), würdet ihr je auf die Idee kommen, ein vor Jahrhunderten kodifiziertes Rezept zu verändern? Ein Rezept, das vermutlich sogar auf die Küche der Renaissance zurückgeht?

Heute wollen eben alle um jeden Preis eine neue kulinarische Sprache erschaffen. Und kennen dabei noch nicht mal das Alphabet. Heute ist die Technologie das Ziel, dem alle huldigen, als wäre sie eine Gottheit. Das Essen selbst steht im Schatten. Ein Gericht soll heute alle möglichen Geschichten erzählen, soll eine „visuelle Performance“ hinlegen.

Die Regionen, die unsere italienische Küche geprägt haben – Meer, Berge, Hügellandschaften – verdienen es nicht, zur schieren Bühne für gastronomische Elite-Küche zu verkommen. Vielleicht steckt hinter all dem ja auch nur eine große Gier. Die Gier des Unternehmers, der seinen Betrieb großmachen will. Die des Küchenchefs, der vor lauter Sternenhunger den Boden der Realität aus den Augen verliert. Die des Gasts, der bei Tisch ein Erlebnis sucht, das nicht so sehr seinen Körper (und seinen Geist) nährt, sondern vor allem sein Ego: Er will hier sein, in diesem einen Restaurant, von dem alle reden, will an der Luxus-Show teilhaben und sie nachher auf Instagram posten. Will erleben, ohne zu begreifen.

Wir haben es hier nicht nur mit einem ästhetischen Trend, mit einer Mode der Sterneköche zu tun. Es handelt sich vielmehr um das Spiegelbild einer Gesellschaft, die das Gefühl für die Grenzen verloren hat und die keinen Respekt mehr für das aufbringt, was authentisch ist oder war.

Tradition ist heute nur noch ein Marketing-Begriff, mit dem das Bedürfnis nach etwas Neuem befriedigt werden soll. Dabei ist es doch wirklich so, dass – um noch einmal Montale zu zitieren – die Schönheit in den „kleinen Dingen“ steckt, in jenem „Nichts“, in dem jedoch die ganze Welt steckt. Gut, dass uns wenigstens die großen Dichter daran erinnern. Auch wenn sie sich schwertun, sich in unserer verbohrten Glitzerwelt angemessen Gehör zu verschaffen.

Es ist übrigens völlig in Ordnung, wenn Sie, liebe Gäste, uns nun fragen wollten: „Aber macht ihr denn nicht genau das Gleiche? Strebt ihr nicht auch kulinarische Spitzenleistungen an?“. Klar tun wir das! Und wir sind stolz auf unsere jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in der Küche und im Service voller Einsatz und Hingabe für den Michelin-Stern arbeiten. Doch in diesen Zeiten allgemeiner Entwurzelung, in denen der Mensch seine wahrste Natur und seine Traditionen zu verlieren droht, versuchen wir, uns ohne großes Brimborium ein Stück Authentizität zurückzugeben. Eine Authentizität, die in jedem einzelnen von uns steckt.

Wir wollen in der Tiefe wurzeln und prächtige Zweige austreiben. Zweige, die in den Himmel wachsen.

Michil Costa