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All diese Statuen im Garten! Ich sehe sie mir genauer an. Eine steht etwas im Abseits, wirkt nachdenklich und in sich ruhend. Eine andere hat schon ein gewisses Alter, trägt es aber mit Würde. Wieder eine andere – sie steht im Pampagras mit seinen auffallenden Zierrispen – hat den Kopf gebeugt. Das wirkt mitfühlend. Es ist doch mitfühlend, wenn man den Kopf zur Seite neigt? Oder ist es eher Koketterie? Dann die beiden Zwillings-Statuen. Eine schaut nach Norden, die andere nach Süden. Ob sie vom selben Geist beseelt sind? Siamesische Zwillingsschwestern mit gemeinsamem Bewusstsein? Sie atmen ihre Ängste aus, scheinen nach Luft zu schnappen. Vielleicht atmen sie in Richtung Göttlichem? Vielleicht sind sie selbst Gottheiten, die etwas erschaffen? Vielleicht spielen sie auch einfach nur mit der Luft, wie Windgott Äolus? Eine andere Statue, die am Baumstamm, ist so schön, dass sie wie der Gott Apollo aussieht, muss man schon sagen. Eine Art Kouros, nur unbeweglicher. Eine weitere Statue schaut zum Wasser hin. Sie alle passen wunderbar in den Garten unseres Albergo Posta Marcucci. Man hat das Gefühl, dass sie die Energie des Wassers spüren, denn das Wasser hier bei uns sprudelt tief aus der Erde, aus ihrem lebendigsten Inneren.
Wir freuen uns, dass wir diese Kunstwerke in unserem Park begrüßen dürfen. Sie alle haben die Energie fleißiger Hände an sich gespürt. Die Hände gehören zu einem Menschen, der schon als Kind als Köhler arbeitete. Dann als Holzschnitzer, später als Maurer, immer jedoch als ein Mensch, der etwas erschafft. Er lebt das Leben mit der Kreativität seiner Hände, und bringt es so in seine Form.
Der Mensch, von dem hier die Rede ist, heißt Romualdo dalla Montagna und ist ein Dichter, der voller Enthusiasmus steckt. Voller entheos, wie die alten Griechen sagten, wenn sie jenen inneren Treibstoff meinten, der göttlicher Inspiration entspringt.
Wahrscheinlich haben Sie noch nie von Romualdo gehört. Aber ich kann Sie nur bitten: Lernen Sie ihn unbedingt kennen! Er ist ein Meister der spontanen Kunst. Einer Kunst, die wild und unzähmbar wie das Wasser ist. Ungestüm und ungebändigt. Fähig, alles und jedes einzuebnen und sich in einem Zyklus immer wieder neu zu regenerieren.
Wasser. Unser Planet besteht hauptsächlich auch Wasser, und auch wir selbst kommen ursprünglich aus der Meereswelt, sind konvertierte Fische, die nun auf zwei Beinen über die Erde laufen. 380 Millionen Jahre sind vergangen, seit das erste Ei dieser Welt befruchtet wurde, seit der erste Fisch seine Fischdame traf, seit sich der erste Unterschied herausbildete. Davor gab es (fast) ausschließlich geschlechtsloses Leben. Ohne die Begegnung mit dem anderen wären wir alle gleich geblieben. Einer wie der andere, ohne jede Identität.
Es ist wunderbar, wenn Verschiedenheit zum Normalzustand wird. Ein gewisser General Vannacci (für unsere nicht-italienische Leserschaft: Das ist ein erzradikaler Neu-Politiker, der jetzt in Brüssel sitzt), wird es schon auch noch begreifen.
Unser Maestro Romualdo hingegen wurde im Jahr 1960 beauftragt, über die Ermicciolo-Quelle zu wachen. Diese äußerst wichtige Trinkwasserquelle versorgt die Stadt Siena.
In diesem Jahr, das uns ewig her scheint, geschah so einiges: Das Radsportidol Fausto Coppi starb ebenso wie der Unternehmer Adriano Olivetto und Malcolm X. Der arme Mont Blanc wurde für einen Tunnel angebohrt. Die italienische Tambroni-Regierung versuchte, die Faschisten wieder zum Leben zu erwecken. Nichts ist jemals wirklich vorüber, alles kommt wieder. „Eine tote Idee bringt mehr Fanatismus hervor als eine lebende. Mehr noch: Nur der toten Idee gelingt das. Deshalb gefallen uns die Märtyrer so gut. Denn dumme Menschen riechen, so wie die Raben, nur, was tot ist.“ So hart und klar hat es Leonardo Sciascia formuliert.
Süß und klar und vor allem äußerst lebendig ist dagegen die Kunst von Maestro Romualdo, der das kostbare toskanische Wasser 33 Jahre lang beschützte, bis zum Jahr 1993. Als Wächter und einsamer Verehrer eines weltlichen Tabernakels, dem die größte Schaffenskraft überhaupt innewohnt. Manchmal weckte ihn nachts eine Alarmglocke. Er fuhr dann in seinem Bett hoch. Was war geschehen an der Quelle? Jedesmal machte er sich dann auf den zehn Kilometer langen Weg bergauf zur Quelle. Die Glocke – seine süße Obsession.
Die Kraft von Maestro Romualdo liegt in seinen herkulischen Händen, mit denen er Werke von grenzenloser Zartheit meißelt. Mit denen er leblosem Material eine Seele einhaucht. Stein ist für ihn Mutter, Schwester, Tochter.
Romualdo erinnert uns daran, wie mühsam das Leben ist, immer gewesen ist. Schon der kynische Philosoph Demetrios sagte: „Niemand kommt mir so unglücklich vor wie ein Mann, dem nie eine Widrigkeit zugestoßen ist.“
Leben heißt, die Dinge dort in Form zu bringen, wo zunächst keine Form zu existieren scheint. Unser Meister hat es geschafft, in die Materie einzudringen und sie zum Leben zu erwecken.
Seine Kunstwerke machen sich wunderbar in unserem Garten.
Alles wandelt sich, und alles steckt in allem. Das ewige παν, von dem wir alle Teil sind. Und in unserem Garten steckt jetzt auch etwas von diesem kreativen Köhlerkind.
Wir danken Ihnen, Maestro, dass Sie uns mit einbezogen haben in Ihre Welt. Dass wir einander kennenlernen und miteinander sprechen konnten, dass wir über Ihre Werke miteinander in Verbindung treten konnten.
Sich zu begegnen heißt, eine Beziehung einzugehen. Kunst schafft eine Beziehung zwischen dem Unveränderlichen und dem Veränderlichen, zwischen Materie und Leben. Wir wollen dem Leben, das Materie und Geist ist, Form und Veränderung, wollen ihm einen Sinn geben.
Doch das Leben als solches hat keinen Sinn. Es hat nur den Sinn, den wir ihm geben.
Die Kunstwerke, die wir zu unserer großen Freude nun in unserem Garten stehen haben, werden uns helfen, zusammen Fragmente der Humanität aufzuspüren.
Denn die brauchen wir. Nach denen sehen wir uns, wie der umherirrende Wanderer in der Wüste sich nach Wasser sehnt.
Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren August!
Michil Costa