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Wir reisen so viel. Fast alle tun wir das. Wir reisen vielleicht sogar ein bisschen zu viel, weil das zu diesen heutigen Zeiten gehört, die uns daran gewöhnt haben, alles immer gleich sofort zu wollen und auch zu bekommen. Wir sind aufgewachsen in einer Welt, die immer schneller dahinrast, in der die Zeit selbst immer schneller vergeht. Das ist Fluch und Segen zugleich.
Jetzt, wo ich mehr Zeit habe als früher, würde ich gerne auch mehr reisen. Doch die nötige Zeit finde ich trotzdem nur selten. Das ist ein Paradox, den letztlich ist alles, was wir wirklich besitzen in diesem Leben, unsere Zeit. Dieser Widerspruch ist Ihnen, denke ich, ebenso geläufig wie mir. Was ich auch empfinde: Dass ich gerne früher mehr gereist wäre. Zu Zeiten, als mein Haupthaar noch voller war und ich ein wenig unbedarfter. Weshalb ich mich heute auch oft nicht mehr richtig erinnere:
Wann habe ich noch mal diesen Sonnenuntergang in Barcelona erlebt? War das auf der Motorradreise mit meinem Vater? Wo sind überhaupt die Träume der Vergangenheit abgeblieben? Doch auf Reisen ging ich manchmal auch einfach nur über ein gutes Buch, das ich, ohne mich auch nur einen Meter von zuhause fortzubewegen, in einer gemütlichen, warmen Stube gelesen habe.
Und so gibt es diese Orte, die in meiner Erinnerung fest verankert sind und die glitzern wie Schatztruhen. Orte und Momente, deren wahre Bedeutung ich oft erst deutlich später wirklich begriffen habe. Die geheimnisvolle Stille des Brunnenheiligtums von Santa Cristina in Sardinien zum Beispiel, wo Geschichte und Heiliges wie in einer ewigen Umarmung miteinander verflochten sind. Jeder einzelne Stein hier erzählt von uralter Menschheitsgeschichte, von Riten, Glauben und Hoffnung, deren Widerhall bis heute zu spüren ist. Er erzählt von den Hoffnungen der Frauen früherer Zeiten, die sich Fruchtbarkeit wünschten. Und vor den kühlen, kreisförmig angeordneten Granitquadern erklärten Stammes-Oberhäupte Kriege oder schlossen Frieden.
Ich war auch in Jerusalem, stand am Heiligen Grab. Ich erinnere mich an diese Stadt als an einen Ort, der vor Spiritualität förmlich vibrierte. Es gab kaum ein Entkommen; jede Straße, jede Gasse schien in ein Stück Ewigkeit zu führen. Und zu denken, wie viele Menschen auf diesen Straßen schon unterwegs gewesen waren vor mir, die ich durch Chaos und Stille wanderte! Vorbei an einem Soldaten mit Gewehr in der Hand, gleich daneben ein junger Araber, der Brot verkaufte. Diese Momentaufnahmen sind kostbar für mich, Symbole der fürchterlichen Widersprüche, die das Heilige Land aushalten muss. Vor dem Verlies des Heiligen Grab selbst, das in der namensgebenden Grabeskirche liegt, wurde ich zum stillen, kontemplierenden Betrachter des Geheimnisses der Auferstehung.
Vieles stelle ich mir aber auch erst einmal nur vor. In Gedanken sehe ich mich durch die Welt wandern. Ich hoffe, eines Tages vor dem Baum von Hiroshima Gänsehaut zu bekommen, einer Trauerweide, die entgegen aller Erwartungen nach dem mörderischen Atombombenhorror wieder zum Leben erwacht ist. In Japan nennen sie diese Bäume Hibakujumoku – es sind Symbole der Resilienz, frische Quellen der Hoffnung, die uns daran erinnern, dass auch aus heißer, schwarzer Asche wieder Leben entstehen kann.
Meine Reiseträume speisen sich auch aus dem Reisetagebuch von Serena und Fabio, wo sich mir besonders ein Hilfsprojekt der Costa Family Foundation in Kampala in Uganda eingeprägt hat – die Green Farm. Dort nimmt die Zukunft in den Händen all deren, die das Land mit Liebe und Hingabe bearbeiten, konkrete Züge an. In einem von Tragödien geprägten Umfeld wird Freiheit von einem abstrakten Konstrukt zu einer Realität, die mit jedem neuen Spross, jeder neuen Ernte, wächst und an Kraft gewinnt. Die pulsierende, belebende Natur zieht mich auch zum Pando Tree, einer Kolonie von Zitterpappeln mit einem gemeinsamen Wurzelwerk. Sie gilt daher als ein einziger Organismus – und zugleich als größter Organismus der ganzen Welt.
Der Pando Tree steht im US-Staat Utah und ist die perfekte Metapher für die Einheit und Kraft, die aus Verbindungen entstehen kann. Falls es sich nicht gerade um uns Menschen handelt, die wir gerade mit all den uns zur Verfügung stehenden Kommunikationsmitteln immer weniger in echter Verbindung miteinander stehen. Die Natur lehrt uns, wie wir gemeinsam gedeihen könne, über Jahrtausende hinweg. Nur allein und auf uns gestellt sind wir zum Scheitern verurteilt. Alleine schafft es keiner.
Träume von künftigen Reisen begleiten mich. Von Sankt Petersburg zum Beispiel, mit seinem milchweißen Himmel und seinen Palästen, die eine opulente und ferne Eleganz beherbergen. Geduldig warte ich darauf, die Stadt besuchen zu dürfen. Schließlich ist Russland deutlich mehr als sein aktueller Herr Zar, ist mehr als der honigsüße Medved und als die Hyperschallraketen. Das riesige Russland ist auch die Mutter einer großartigen Kultur, die gerade völlig in Vergessenheit gerät! Ich möchte an den Kanälen von Sankt Petersburg entlangspazieren, möchte die klirrende Kälte dieser Stadt spüren, die mich daran erinnert, dass Schönheit gleichzeitig schneidend klar und behaglich warm sein kann.
Doch die Reisen, von denen ich träume, von denen ich geträumt habe und an die ich mich erinnere, sind nicht die Reisen, die ich tatsächlich auf meinen eigenen Beinen gemacht habe. Es sind die, auf die mich meine Lektüren geschickt habe. Zu lesen ist vielleicht die intimste, persönlichste Form von Freiheit. Jede einzelne Seite ist wie eine Gratisfahrkarte in ferne Welten, zu Gedanken und Ideen, von denen ich anderenfalls nie etwas erfahren hätte. Wer liest, gewinnt die verlorene Zeit zurück, kann tausend Leben in einem einzigen leben. Ohne sich nur einen Schritt aus seiner warmen Stube herauszubewegen.
Ob es nun zu einem Brunnenheiligtum ist, zu einem Baum, der die totale Zerstörung überlebt hat oder zu einer in einem fernen Winkel dieser Welt verborgenen Bibliothek – eine Reise ist die authentischste Art und Weise, sich daran zu erinnern, dass Freiheit überall zu finden ist. Wir müssen sie nur suchen – und wir müssen sie verteidigen. Und wenn wir sie in uns selbst suchen, dann ist uns klar, dass jede Reise eine Heimkehr ins eigene Ich ist.
Manche Orte, wie unser Zuhause, sind auf keiner Karte verzeichnet. Odysseus hat uns gelehrt, dass es das Schicksal des Menschen ist, sich selbst auf die Probe zu stellen, um zu sehen, zu erkennen und zu entdecken. Bis zu Erschöpfung – dann wird die Rückkehr eingeleitet. Der Ort, an den wir zurückkehren, ist das Zuhause: Dort, wo das Herz Zuflucht findet und wo jede Reise ihren Beginn und ihr Ende hat.
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